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BOULEVARD
NEWS AUS LESVOS
Der Golf von Kalloni
24.November 2010 - Sollten wir
den Winter etwa überspringen?
Aus
dem Holländischen/Englischen von Gabriele Podzierski
Das
herrliche Wetter will nicht enden, tagsüber ist es mit Temperaturen über
der 20 Grad-Marke immer noch wie Spätsommer, aber die sehr feuchten
Nächte, das Laub, das den Boden inzwischen bedeckt, und die unzähligen
Pilze sind deutliche Zeichen dafür, dass der Herbst in vollem Gange ist.
Manch einer lässt sich aber trotzdem nicht davon abhalten, im warmen
Meer zu schwimmen, und sowieso wird das Mittagessen derzeit immer noch
im Freien unter azurblauem Himmel eingenommen. Die Griechen und die
Handvoll Touristen machen dankbar Gebrauch von diesem Geschenk: Vor
allem an den Sonntagnachmittagen sind die wenigen strandnahen Tavernen,
die noch geöffnet haben, proppevoll.
Die
Olivenernte hat in diesem Jahr früh begonnen, die Bäume sind reich
beladen. All überall auf der Insel hört man das rhythmische Klatschen
der langen Stöcke, die benutzt werden, um die Ölfrüchte aus den Ästen zu
schlagen, und man sieht die Erntenden gebückt und klaubend in den Netzen
unter den Bäumen sitzen. In diesem Jahr drängt sich aber hier und da
auch ein unangenehmes Geräusch zwischen das beruhigende Schlagen:
Diejenigen, die des jahrelangen Bückens müde sind, es vielleicht auch
nicht mehr können, setzen eine Art Staubsauger ein, um die Oliven vom
Boden zu lesen. Auf den Straßen kommen einem die voll beladenen Pick-Ups
entgegen, auf dem Weg zur Olivenpresse, wo sich mittlerweile die Säcke
turmhoch stapeln, bereit für die Verarbeitung zum köstlichen
hochwertigen Öl.
Das
Licht hat in diesen Tagen einen warmen Glanz, und die Insel präsentiert
sich im schönsten Wanderwetter: Durch die Sonne, welche die Natur
faszinierend in Szene setzt, leuchten nicht nur die Laubbäume in den
herrlichsten Farben.
Ob
man nun oberhalb von Vatera oder Anemotia durch den Wald spaziert, oder
Rund um Agiassos, ein Abgeschiedenheitsgefühl bleibt in diesen Tagen
aus, denn unentwegt kommen einem Menschen mit Körben und Autos, voll
besetzt mit Familien entgegen, alle auf dem Weg, sich auf die Pilzsuche
zu machen. Auch die Spuren, die sie hinterlassen, sind nicht zu
übersehen: Abgeschnittene Pilze, die, auf Wurmstich überprüft, nicht für
gut befunden wurden und in die Landschaft geworfen wurden. Ist man
einmal auf dieser Fährte, findet man natürlich selbst nicht einen
einzigen Pilz mehr.
Wenn es windstill ist, liegen derzeit der Golf von Kalloni und der von
Gera atemberaubend schön, wie ein türkisfarbener Spiegel, dar, in dem
sich kleine weiße Wölkchen spiegeln. Nur ab und an, wenn ein Fischlein
sich übers Wasser wagt, kräuselt sich die Oberfläche leicht. Die
Flamingos haben inzwischen die Salinen bei Skala Polichnitou wieder
besetzt und schreiten unbeirrt und stolz auf ihren langen Beinen durch
das seichte Wasser.
Tiefe Enttäuschung herrscht derzeit bei Fischern und Liebhabern von
Meeresfrüchten: Muscheln sind noch nicht zu bekommen, denn ihr Fang ist
nicht freigegeben, da die Gehalte an Cadmium, Blei, Kolibakterien, und
Salmonellen nicht den vorgegebenen Richtlinien entsprechen.
Und
noch ein Wermutstropfen in diesem prächtigen Herbst: Die Luft bei uns
ist total verpestet, da bei Molyvos die Müllhalde brennt. Hat man das
Pech, genau in der Windrichtung zu wohnen, ist das Zuhause derzeit
stundenlang in stinkendem Rauch gehüllt, was bedeutet, dass die Fenster,
trotz warmen Außentemperaturen fest verschlossen bleiben müssen und man
nur mit einem schützenden Tuch um den Mund nach draußen gehen kann. Der
Bürgermeister wäscht seine Hände in Unschuld und schiebt den Schwarzen
Peter den Bauern zu, die angeblich die Kippe in Brandt gesetzt haben
sollen. Das schwelende Feuer mit Erde zu löschen, war nicht mit Erfolg
gekrönt, und so sitzen wir nun seit Wochen in diesem schrecklichen
Gestank. Der Bürgermeister versprach nun, dass dieses Problem im
nächsten Jahr mit einer neuen ordnungsgemäßen Müllverbrennungsanlage
nicht mehr auftauchen wird. Aber wer glaubt ihm das schon? Es ist der
letzte Bürgermeister von Molyvos, denn ab Januar wird es dieses Amt
nicht mehr geben, und ab dann wird Lesvos nur noch von einem einzigen
Bürgermeister, der seinen Sitz in Mytilini haben wird, verwaltet. Das
sind Momente, wo man nicht gern auf der Insel lebt, denn es schmerzt
zuzusehen, wie diese wundervolle Natur von Menschen zerstört wird, die
von Abfallbeseitigung keinen blassen Schimmer haben. Wann immer der
Wetterbericht Regen prophezeit, gerät „aus Versehen“ die Müllkippe in
Brandt, genauso, wie heute: Trotz schlechter Prognose, zeigte sich die
Insel in herrlichstem Wetter, und in der Luft hing der typisch
widerliche Gestank von brennendem Plastik. Ein Südwind jagte vereinzelte
Wolken in Höchstgeschwindigkeit längst des Himmels, Richtung Berge, die
sie wie ein Magnet anziehen, aber der Regen blieb aus. Glücklicherweise
war der Wind auch stark genug, um auch den schlimmsten Giftrauch
wegzublasen.
Zurück zu meiner Pilzsuche: Während ich mit der Nase auf dem Waldboden
durch die Gegend streifte, erschien plötzlich und unerwartet eine andere
Köstlichkeit vor meinen Augen: Spargel! Spontan änderte ich mein
Vorhaben, wandte mich von den Pilzen ab und konzentrierte mich darauf.
Eine leckere dicke fette Ausbeute, von Exemplaren, die zu ungeduldig
waren, auf das Frühjahr zu warten, lachte mich an.
Auch die Anemonen sind in Eile, die ersten entfalteten ihre Knospen
schon in der vergangenen Woche, und mittlerweile haben sie sich bereits
hier und da in bescheidenen Feldern ausgebreitet. Tja, wie soll das
weitergehen, mit all den ungeduldigen Menschen, die den Müll anstecken
und den Pflanzen, die den Frühling nicht abwarten können?
Ich
mag den Winter: Gemütlich daheim im Sessel am offenen Kaminchen sitzen,
während der Regen an die Fensterscheiben prasselt und der Wind um das
Haus pfeift, aber bei so vielen Frühlingsimpressionen (auch die
Zistrosen haben bereits neugierig ihre Blüten geöffnet) stelle ich mir
dieselbe Frage, wie der frühe Spargel und die Anemonen: Sollten wir
dieses Jahr den Winter nicht einfach mal überspringen?
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