|
BOULEVARD-NEWS LESVOS
30.Juli
2015 – Hitzewelle
Aus dem Holländischen von Gabriele Podzierski
Jetzt, wo sich die Gemüter nach den aufreibenden
Verhandlungen mit Europa etwas beruhigt haben, gibt es eine andere
Ursache für wiederum schlaflose Nächte: Eine Hitzewelle!
Dieses allseits bekannte Wetterphänomen, wenn die
Temperaturen an mehreren Tagen weit über dem Durchschnitt liegen. In
meiner Heimat, den Niederlanden, spricht man davon, bei fünf
aufeinanderfolgenden Tagen über 25 Grad, wovon drei 30 Grad auf dem
Thermometer anzeigen müssen. Die Definition einer griechischen
Hitzewelle (kafsonas) ist eine andere: 3 Tage hintereinander mit über 39
Grad)....
Puh.., es ist dermaßen heiß, dass selbst die strandenden
Flüchtlinge sich die Zeit für eine Abkühlung im erquickenden Nass
nehmen. Glücklicherweise hat die Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ nun
regelmäßig einen Bustransfer für die Flüchtlinge, die im Norden der
Insel ankommen, eingesetzt, um sie in die Hauptstadt Mytilini zu
bringen, denn wie quälend ist die Vorstellung, tausende dieser Menschen,
wie in den letzten Wochen, 70 km zu Fuß unterwegs in sengender Hitze zu
wissen.
Tja, und selbst unsereins bleiben nur 3 Möglichkeiten,
um einen kühlen Kopf bei diesen Temperaturen zu bewahren: Entweder im
abgedunkelten und dadurch kühlen Zuhause zu verweilen, im schützenden
Schatten die Seele baumeln zu lassen oder sich ein paar Schritte zum
Strand zu quälen, um sich in die blauen erfrischenden Fluten zu stürzen.
Lesvos ist umgeben von der Ägäis, einem Wasserreich von
214.000 Quadratkilometern zwischen der Türkei und Griechenland. Im
Norden ist sie verbunden mit dem Marmarameer sowie dem Schwarzen Meer,
und im Süden strömt sie in das Mittelmeer. Drei große Flussmündungen
beliefern die Ägäis mit Wasser: Die der Ströme Evros, Nestor und Struma
(gr.:Strymodas). Sollten Sie diesen Flüssen folgen, und damit
zahlreichen anderen, die in sie münden, erreichen Sie Bulgarien. Der
Evros stellt teilweise die Grenze zwischen Griechenland und der Türkei
dar, das Struma-Delta liegt zu einem kleinen Teil in der Republik
Mazedonien.
Entschließt man sich zu einem erfrischenden Bad in der
Ägäis, so bedeutet das, in internationalen Gewässern zu schwimmen. Aber
auch das Nass des Mittelmeers plätschert in der Ägäis, was sie noch
reicher macht, denn der in sie mündende französische Fluss Rhone
schmuggelt das Wasser aus dem Genfer See hinein, und der Po aus Italien
kommt direkt aus den Schweizer Alpen mit Wasser aus den Seen von Lugano
und Maggiore im Gepäck. Hier noch einige Flüssenamen, die ihren Weg aus
der Mitte Europas ins blaue ägäische Meer finden und dabei alles an Nass
aus den Seen aufnehmen, die ihnen unterwegs begegnen: Isonzo,
Krka,Neretva, Drin, Vijose und Vadar. Also echt eine lustige
Vorstellung, in so einer Mischung aus all diesen berühmten Flüssen und
Seen rumzuschwimmen, die Orte gekreuzt haben, die als Urlaubsziele so
beliebt sind, oder?
Ach, wie herrlich ist es, in der Ägäis zu schwimmen, und
nicht nur das, denn wenn Sie sich mit einem Schnorchel ausrüsten, können
Sie die Welt der Fische besuchen. Ok, zugegeben, sie ist nicht mehr so
belebt wie einst, als das Meer noch nicht überfischt war, aber der
Ausflug lohnt sich immer noch. Die Arten alle aufzuzählen, würde hier
den Rahmen sprengen, aber einige von ihnen können Sie auf den
Speisekarten der Tavernen finden und alle teilen ihren Lebensraum mit
Tintenfischen, Muscheln, Seesternen, Delphinen und anderem wundervoll
anzusehendem Meeresgetier. Selbst Seehunde zählen dazu, obwohl niemand
genau sagen kann, wie viele von ihnen noch existieren. Ich durfte immer
mal wieder in den vergangenen Wintern diesen Glücksmoment genießen, ab
und zu einen von ihnen im Meer schwimmen zu sehen, nur einen kurzen
unwirklichen Moment zwar, in dem sein runder Kopf auf der
Wasseroberfläche erscheint, er seinen schönen Schnurrbart für einige
Sekunden präsentiert, um dann wieder spurlos abzutauchen.
Es gibt viele Menschen, die daran glauben, dass sich noch
ganz andere Kreaturen in den Tiefen des Meeres tummeln: Die
Meerjungfrauen! Tja, und so berichten einige Mythen, dass die Erste
ihrer Art, wie die meisten Flüchtlinge heute, aus Syrien stammt.
Atargatis, die syrische Fischgöttin und Urmutter aller Meerjungfrauen
und Wassergöttinnen, war vor ca. 3.000 Jahren verantwortlich für die
Fruchtbarkeit der Erde und der Meere. Zu erwähnen ist, dass Fische und
Tauben der großen Göttin des Naturlebens heilig waren. Die Legende
erzählt, dass Atargatis sich eines Tages Hals über Kopf in einen Hirten
verliebte und sich ihm hingab. Tja, und so ein göttliches Liebesspiel
scheint es in sich zu haben, denn der Schäfer überlebte es nicht.
Untröstlich darüber, schmiss sich Atargis aus lauter Verzweiflung
darüber in die Fluten, nachdem sie ein Mädchen geboren hat. Das Problem:
Sie war unsterblich, und ihre untere Körperhälfte endete in einem
Fischschwanz. Ihre Tochter Semiramis jedoch wurde Königin von Syrien,
die im Andenken an ihre Mutter ihrem Volk verbot, Fisch zu essen, und ob
man es glaubt oder nicht, noch in der heutigen Zeit, wird er – mit
Ausnahme an Küstenstreifen – in dem Land kaum verzehrt.
Kommen wir in diesem Zusammenhang zurück auf unsere
Insel, hin zu dem Meerjungfrauendorf Skala Sykaminia, erbaut 1922, als
Flüchtlinge aus Anatolien massenhaft Schutz auf Lesvos suchten. Das
Kirchlein „Panagia Gorgona“ (Meerjungfrau) auf einem weißen Felsen in
dem pittoresken Hafen gibt noch heute Zeugnis davon. Die Sage erzählt,
dass einst ein Kapitän, der dort lebte, auf unerklärliche Weise
verschwand, und am Tag seines Verschwindens in dem Gotteshaus das Fresko
von der Mutter Gottes mit einem Fischschwanz auftauchte. Am nächsten Tag
kamen die Flüchtlinge, und der Ort und seine Gorgona wurden berühmt, vor
allem auch durch den Roman
"Die Madonna mit dem Fischleib" von Stratis Myrivillis.
Die Geschichte handelt von einem außergewöhnlich schönen Mädchen, dass,
lt. Aussagen einiger alter Dorfbewohner, von einer Meerjungfrau geboren
wurde. Ach ja, möge die Meerjungfrau-Madonna all den Flüchtlingen die
jetzt die Küste nicht unweit von Skala Sykaminia erreichen, Heimat, Hab
und Gut verloren haben und ungewiss in die Zukunft schauen, ihren Segen
geben…
Die Ägäis ist umwoben von Mythen: Helden, wie Odysseus,
verweilten dort Jahre, Ikarus stürzte hinab in ihre Fluten und starb,
manch eine Seele ertränkte sich in dem Wasser aus Liebesleid (Alcyone
und Sappho) und nicht zu vergessen die Legende von dem Sänger und
Dichter Orpheus, dessen Kopf mitsamt seiner Lyra in den Fluss Hebros
geworfen, die Ägäis hinab schwammen und auf Lesvos an Land gespült
wurden.
Ja, so ist unser Meer voller Geschichten, und wenn wir
genau hinhören, tragen sie uns über die Grenzen von Griechenland, in
alle Teile Europas, aber auch in die andere Richtung, beispielsweise
nach Syrien, einem von den Orten auf der Welt, die zur Zeit nicht
wirklich mit schönen Geschichten verbunden sind. Auch Syrien grenzt im
Westen an das Mittelmeer, aber ich befürchte, dass die kühle See dort
derzeit keine Erleichterung hinsichtlich des Krieges schenkt, sondern
nur Fluchtwege hin zu Orten, die Sicherheit bieten…
|