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BOULEVARD
NEWS AUS LESVOS
Der Film „America, America“ von Elia Kazan
29.September 2011 - Der Auszug
Aus dem Holländischen von Gabriele Podzierski
Während Griechenland weiter und weiter in der Krise versinkt, prangt die
Sonne ungestört weiter am strahlendblauen Firmament, als wolle sie die
dunklen Schatten über dem Land vertreiben und die Herzen der
verzweifelten Menschen hier erwärmen, bevor bald der harte Winter Einzug
hält.
Noch immer landen die Chartermaschinen und speien Ladungen von
sonnenhungrigen Besuchern aus, die enttäuscht von dem
Schlecht-Wetter-Sommer in ihrer Heimat sind und auf unserer Insel noch
etwas Wärme erhaschen wollen. Aber trotzdem: Die großen
Touristen-Gruppen aus West-Europa sind bereits fort und auch die wenigen
Griechen, die sich dieses Jahr noch einen Urlaub leisten konnten. Die
natürliche Ruhe hat Lesvos wieder eingeholt, und die Vorbereitungen auf
den Winter laufen: Trauben, Feigen und Walnüsse werden fleißig geerntet.
Während der Frühling recht kühl, ziemlich nass und unberechenbar war,
der Sommer für griechische Verhältnisse kaum Hitzewellen mit sich
brachte, präsentierte der September ein herrliches warmes Wetter, bis
auf die letzte Woche: Ein schweres Unwetter zog mit viel donnerndem
Tamtam und einer spektakulären Blitz-Show über Lesvos, begleitet von
heftigsten Schauern und mehreren schwächeren Regenfällen. Der
Inselwesten bekam jedoch nur ein paar Tropfen Feuchtigkeit mit, die
schnell von der ausgetrockneten Erde aufgesogen wurden.
Soha, bei Leonidio, an der Ostküste des Peleponnes wurde wohl von der
Unwetterfront mit voller Wucht getroffen, sie brachte aber keine
Verwüstung mit sich, sondern ein Geschenk: Sie spülte einen alten
mykenischen Friedhof aus dem 14. Jahrhundert vor Christus frei, und in
einigen Gräbern stieß man auf antike Töpferwaren.
Nachdem noch einige Tage mit fröhlichen weißen und grauen Wolken, die in
der blauen Luft Fangen spielten, dem schlechten Wetter folgten, eroberte
sich die Sonne dann wieder bis heute ihren dominierenden Platz hoch oben
am Himmel. Der Herbst scheint in weiter Ferne, jedoch nicht tief
versteckt in den Herzen der Menschen, wo er längst begonnen hat.
Das
griechische Volk seufzt unter dem Joch immer weiter ansteigender Preise,
nicht enden wollender Steuererhöhungen, drohender Insolvenz und
Arbeitslosigkeit. Immer mehr Rentner kehren zurück in ihre Dörfer auf
dem Land oder auf die Inseln, die sie einst verlassen haben, denn dort
haben sie wenigstens noch Nahrung, die sie sich selbst anbauen können.
Für
die Griechen vom Festland, ist Emigration kein Fremdwort. Seit dem 8.
Jahrhundert v.Chr. suchten sie Inseln und fremde Küsten auf und ließen
sich rund um das Schwarze Meer und in Ägypten nieder. Später kehrten sie
wieder zurück, auf der Flucht vor politischen Kämpfen, wie z.B. nach
dem Zusammenbruch des Byzantinischen Reiches im 15. Jahrhundert. Im 19.
Jahrhundert machten sie sich wiederum auf, nach Ägypten und Kleinasien,
um ihre Handelsgeschäfte auszubauen.
Im
20. Jahrhundert war es Armut und Unterdrückung, die sie noch weiter in
die Welt trieben. 1910 war nahezu ein Viertel der griechischen
Arbeitskräfte ausgewandert, weit, bis nach Amerika, wo 1914 mehr als
35.000 Griechen ankamen. Ein fantastischer Film über diesen Auszug ist
"America, America", aus dem Jahre 1963, von dem
griechisch-amerikanischen Regisseur Elia Kazan, der selbst 1913 mit
seinen Eltern von der Türkei aus nach New York ging.
Nach dem Fall des Osmanischen Reiches (1923), war es aufgrund eines
strengeren Einwanderungsgesetzes nicht mehr so einfach, nach Amerika zu
gehen, und so suchten die Auswanderer sich neue Ziele: Kanada, Ägypten,
Australien, Südafrika und Südamerika. Zwischen 1940 und 1974 packten
mehr als 1 Mio Griechen ihre Koffer. Viele von ihnen hatten das Glück,
nicht allzu weit von ihrer Heimat, und zwar in Europa, Arbeit zu finden,
so allein die 430.000, die 1973 als Gastarbeiter in Westdeutschland eine
Anstellung fanden.
Seit den 90erJahren ist Griechenland nun
selbst zum Einwanderungsland geworden. Neben den heimkehrenden
Landsleuten, waren es hauptsächlich Albaner und Ägypter, die nach den
schlecht bezahlten Jobs schnappten. Jetzt aber sieht es so aus, dass all
die Ausländer wieder in ihr Mutterland zurückkehren können, denn die
Arbeitslosigkeit steigt unaufhörlich.
Die
Geschichte auf Lesvos spielte sich nicht anders ab: Im 20.Jahrhundert
zwang die Armut viele Bewohner, ihr wunderschönes Lesvos zu verlassen,
so dass manch ein Dorf plötzlich menschenleer war, wie Ambeliko und
Milies.
Der
Hobby-Historiker Vasilis Vasilo war fasziniert von dem Leben
ausgewanderter Lesvorianer in Australien, wo die meisten Griechen
Clubgemeinschaften gründeten, in denen Menschen aus den verschiedensten
griechischen Regionen zusammenkamen, ja es entstanden selbst Vereine,
deren Mitglieder aus ein und demselben Dorf stammten, wie z.B. aus
Antissa, Agiassos und Mytilini. Vasilis Vasilo begann, ihre Geschichten
und Fotografien zu sammeln, die er nun in 2 Büchern herausgegeben hat „Journeys
of uncertainty and hope“ und „Our Homeland: Lesvos“.
Seine Webseite
Syndesmos (wo Sie auch mehr Infos über die beiden Bücher finden)
gibt Auskunft darüber, wer einst aus welchem Dorf auf Lesvos ausgezogen
ist. Komplett ist die Liste natürlich nicht, aber man bekommt schon
einen Eindruck, wie viele Familien durch die Emigration auseinander
gerissen wurden. Einige von ihnen haben ihre Lebensläufe aufgezeichnet,
die ebenfalls auf der Webseite nachzulesen sind. Überwiegend sind es
Erfolgsgeschichten von Menschen, die auf Lesvos keine Zukunft hatten,
und die es geschafft haben, sich mit harter Arbeit eine eigene Existenz
und somit ein würdiges Leben aufzubauen.
Die
Lektüre ist einfach nur faszinierend, aber es ist auch traurig, zu
erfahren, aus welchem Grund diese Menschen, ihre Wurzeln aus dem
geliebten Inselboden zogen, um in einem fernen Land einen Neuanfang zu
wagen. Kinder, die ihre Eltern zurückließen, damit diese weniger Mäuler
zu füttern hatten, Jungen, die auf Tabaksfeldern ausgebeutet wurden oder
als Schäfer keinen müden Cent verdienten und Mädchen, die nicht an arme
Bauern verheiratet werden wollten und darum ihren Brüdern ins Unbekannte
nachreisten.
Nun
steht Griechenland wieder vor einer schweren Krise. Auf Lesvos zieht es
die Jüngeren in die Städte auf dem Festland, in der Hoffnung, dass dort
eine sichere Zukunft vor ihnen liegt. Aber die Jugend will noch mehr,
hat ihren Horizont erweitert, und versucht, im Ausland zu studieren, um
bessere Arbeitsplätze zu finden.
Ich
frage mich, ob wir wiederum vor Zeiten stehen, in denen bittere Armut
wieder so erdrückend werden kann, dass Griechen ihre Koffer packen
werden, um anderswo mit aller Kraft ihr Leben neu zu beginnen. Aber, ich
bin mir sicher, wohin sie das Leben auch führen wird, ihr Herz wird
allezeit in ihrer Heimat Griechenland bleiben.
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