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AUS
DEM DSCHUNGEL
Sonne, Salicornia und Algen
Ein Bericht aus dem Amsterdamer Dschungel
Aus dem Holländischen von Gabriele Podzierski
Die
Welt ist derzeit wirklich dabei, sich zu verändern. Normalerweise ist
dies ja nicht immer so offensichtlich, aber als wir letzte Woche in den
Niederlanden ankamen, war das Erste, was wir sahen, türkische Frauen die
Chorta und Walnüsse sammelten. Sie zögerten selbst nicht, in die Bäume
zu steigen, um die Früchte zu pflücken und das in kompletter Montur,
d.h. mit Kopftuch, ihren langen Gewändern, etc.. Wir waren fassungslos.
Kamen sie etwa aus Lesvos, wo das Ernten von Chorta (gr.: Xorta) seit
der Antike kein Hobby, sondern bittere Notwendigkeit ist? Ist es in den
Niederlanden inzwischen auch wieder so weit, dass man sich die Nahrung
mühsam in der Natur suchen muss? Na, ich denke Manager und
Bankdirektoren werden nicht unter den Erntenden zu finden sein, sondern
hauptsächlich Migranten. Die Frauen, die wir sahen, bekamen nicht nur
Chorta und Nüsse gratis, sondern auch reichlich Sonnenschein... Ja,
richtig gelesen, eine Woche Aufenthalt Ende September in den
Niederlanden und Sonne pur... als ich noch in Amsterdam lebte, blieb mir
dies versagt.
Chorta ist der griechische Sammelbegriff für essbares Wildgemüse.
Chorta-Mafia ist unser Sammelbegriff für die (meist älteren) Frauen, die
das ganze Jahr über – ausgenommen im Juli/August – durch die Natur
streifen, und dort Gemüse, Kräuter und Früchte ernten. Trugen sie früher
noch selbst geflochtene Körbe aus den Zweigen des Mönchspfeffers (Vitex
agnus-castus L.), auch Keuschbaum genannt, mitsich, so sind sie heute
mit Plastiktüten bewaffnet. Ja, und sammeln kommen die Frauen auch in
Ihrem Garten, denn das ist ein ungeschriebenes Gesetz hier auf Lesvos:
Die Ernte von Chorta ist überall gestattet – selbst auf
Privatgrundstücken! Manchmal passiert es auch – selbstverständlich nur
ganz aus Versehen – dass Ihr Kohl, Knoblauch und Ihre Zwiebeln mit in
der Tüte landen (daher „Chorta-Mafia“), denn man kann sich ja mal vertun
bei der Pflanzenvielzahl, die Lesvos zu bieten hat. Wir reden hier von
1400 – 1500 Arten, und dass man da ab und an den Wald vor lauter Bäumen
nicht sieht, wundert nicht. Aber, ganz ehrlich, eigentlich wissen diese
Frauen ganz genau, was sie da tun und einheimsen, denn das
Pflanzenwissen wird seit Generationen von der Mutter auf die Tochter
übertragen, es sei denn, die Tochter ist nach Athen oder Thessaloniki
umgezogen, um dort zu studieren. Aber selbst da gibt es Chorta in den
Geschäften zu kaufen, denn, ich sage es mal so: Ein Grieche ohne Chorta,
ist wie ein Holländer ohne Hering...
Das
Buch „Ta Xorta“ von Myrsini Lambraki ist ein kretisches Weltwunder auf
dem Gebiet von Chorta, Kräutern, Früchten, Honig und des Zubreitens. So
um die 60 Chorta-Sorten werden darin detailliert beschrieben, dazu
Gerichte vorgestellt, so dass mit Sicherheit für jeden Geschmack etwas
dabei ist. Bedauerlich ist, dass „Ta Chorta“ bzw. „Ta Xorta“ nur in
griechischer Sprache erhältlich ist.
In
meiner „Bilbliothek“ stehen noch eine handbreit griechische Chorta- und
Kochbücher, aber in all diesen Werken habe ich vergeblich nach Queller-
(Salcornia) oder Algenrezepten gesucht, umso ärgerlicher, als diese
Gaben der Natur hier auf Lesvos gratis und in unglaublichen Mengen zur
Verfügung stehen. Trotzdem: kein Rezept – keine Erwähnung in meiner
Literatur. Diese Pflanzen werden einfach totgeschwiegen und das
angesichts der Tatsache, dass es auf Lesvos ja genug Hungersnöte gab
(letztmalig in den 60er-Jahren), aber sich von Algen und Queller
ernähren? – Nein, bloß nicht! (dies gilt auch für Kapern)
In
Amsterdam suchte ich nun einen Fischtraiteur auf. Einen was? Naja,
Fischhändler geht heutzutage nicht mehr... iieegitt, bäh, bah.., es sei
denn, dieser sucht eine Frau. Na ja, und eigentlich ist er auch kein
Fischtraiteur sondern, ganz edel ausgedrückt, ein Seebankettraiteur.
Meiner Meinung nach ist die Zeit reif für ein abendfüllendes
TV-Programm: „Fischhändler sucht Frau“ (Anmerkung der Übersetzerin:
Fischhändler wortwörtlich aus dem Holländischen = Fischbauer. Daher der
Gedankengang von Jan). Aber zurück zum Besuch beim Fischverkäufer: Ich
traute meinen Augen kaum... Behälter voll mit Queller und in der Auslage
leuchtendgrüne Algen! Während ich noch ungläubig darauf starrte
(Farbstoffe?), bekam ich ein Pappschächtelchen (ja, das für Hering) mit
Algen, um zu probieren. Deliziös! Weich und doch knackig, ein bisschen
wie Sojasprossen, süß und salzig zugleich, würzig mit einem scharfen
Nachgeschmack. Ganz naiv fragte ich, ob der See-Traiteur mit etwas
Sambal gewürzt habe. „Sambal?“, war die erstaunte Reaktion, „na, das ist
ja wohl eh ein Fall für den Nudel-Traiteur. Nein, nur ein wenig Öl,
Sesam und eine Prise Zucker.“ Tja, das hätte ich alles wissen müssen,
als ich noch in Amsterdam lebte:
Wildgemüse und Kräuter von der Chorta-Mafia und jeden Tag Hering, Algen
und Queller vom Seebankettraiteur! Meine Güte, wie gesund hätte ich
leben können...
Der
Queller (Salicornia europaea L.) ist eine saftige, fleischige und
haarlose Pflanze, wächst an oft überfluteten Wattböden der Meeresküsten,
wird bis zu 40 cm hoch und hat keine Blätter, nur wulstartig verdickte
Stiele und Seitentriebe, die oft rötlich angelaufen sind. Eine rote
Pflanze ist älter. Die unscheinbaren kleinen grünlichen Blüten stehen
endständig an jedem Spross, erscheinen im Herbst und werden durch den
Wind bestäubt. Salicornia gehören zu den Halophythen, Salzpflanzen, (lat.
sal = Salz), die nur auf salzigem Boden gedeihen können.
Eine andere deutsche Bezeichung für Queller ist „Glasschmelz“. Dieser
Name rührt daher, dass man früher die Asche der Pflanze zur Bereitung
von Soda benutzte, das beim Zusammenschmelzen von Glas benötigt wurde.
Im biblischen Palästina, z.B., verbrannte man das getrocknete Kraut des
Queller zur Gewinnung von Seife (Anm.der Übersetzerin: Gemischt mit
Tonerde oder Talg ergibt Soda, wovon die Asche bis zu 15% enthält, grobe
Seife). Neben 75% Kochsalz, enthält die Asche des Queller, zu 10%
Kalium, Jod und Brom.
Reif und grün, sind sie essbar und die saftigen, salzigen und
mineralhaltigen Stängel können beispielsweise Salaten zugefügt werden.
Man kann sie in Essig einlegen oder zubereiten wie Spargel, und dann
entweder warm mit Butter oder kalt mit Essig genießen. Die Samen werden
gemahlen, um aus dem daraus gewonnenen Mehl salzige Brötchen und
Brotstangen zu backen.
Salicornia kann auf Lesvos im Mai (grün) und im September/Oktober (rot)
geerntet werden.
Jan van Lent/5. Oktober 2009
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