|
BOULEVARD-NEWS LESVOS
Die Burg von Mytilini
28.August 2014 – Nichts Neues unter der Sonne
Aus dem Holländischen von Gabriele Podzierski
Na so was, da dümpelt Lesvos jahrelang so ohne, dass es
großartige Veränderungen gibt, vor sich hin, und dann plötzlich gibt’s
einen Sommer wie diesen, in dem es der nur so brummt von Neuigkeiten: In
Sigri wurden zahlreiche versteinerte Bäume entdeckt, es gibt eine
Bahnverbindung zwischen Molyvos und Anaxos, durch die Eröffnung der
Disco „OXY“ haben partyhungrige junge Menschen einen weiteren Treffpunkt
gewonnen, die Charterflüge nach Lesvos wurden aufgestockt, womit das
Touristenaufkommen dramatisch angestiegen ist, und vor einigen Tagen
realisierte sich die zweimal wöchentliche Schiffsverbindung nach Izmir.
Dies nicht genug, denn jetzt hat die spanische Firma
„Iberdrola“ auch noch begonnen, an einer sogenannten Energielandschaft
zu basteln, einem Windmühlenpark im Westen der Insel!
Demnächst entsteht dort also eine neue
Touristenattraktion mit laut summenden Windkrafträdern, die sich 67
Meter hoch in den Himmel strecken werden, wie einst die Mammutbäume, die
an diesem Platz vor Millionen von Jahren standen. Tja, und diese
Neuerung soll wahrhaftig in einem Geopark der UNESCO durchgezogen
werden.
Für das Unternehmen ist Lesvos (wie auch die Inseln
Limnos und Chios) eine wahre Schatzinsel, wo man Geld ohne viel Mühe,
zwar nicht heben, aber einfach aus der Luft schnappen kann. „Iberdrola“
ist nämlich kein Dienstleistungsunternehmen sondern vielmehr ein
Händler, der plant, den Strom, welchen die geplanten 153 Windrädern
demnächst erzeugen werden, an den Meistbietenden zu versteigern, und das
wird garantiert nicht unsere Insel sein. Was es für eine feine
Gesellschaft ist, die offenbar nahezu den größten Teil Spaniens unter
ihrer Knute hat, zeigte eine Folge des holländischen TV-Formats von „Goodbye
Deutschland“
(„Ik Vertrek“), in der eine niederländische Familie in
Spanien ein ganzes Jahr auf einen Stromanschluss warten musste (und wer
weiß, vielleicht wartet sie noch immer). Solch netten Bürschchen wird
Lesvos also demnächst ausgeliefert sein…
Aber weiter mit dem Feuerwerk an Neuigkeiten: Ein
Zollhaus im Hafen von Pètra! Zäune und Gebäude sind bereit, um die
ersten Touristen aufzufangen, die einen Ausflug in die Türkei machen
wollen. Nicht bereit dafür ist jedoch die Hauptstadt der Insel, die
diese Schiffsverbindung exklusiv in ihrem Hafen anbieten möchte, aus
Sorge, dass anderenfalls demnächst kaum ein Tourist Mytilini besuchen
wird, tja, und so kommt es, dass derzeit keine Zollbeamten für Pètra
zur Verfügung stehen.
In der Antike bestand die Insel aus mehreren kleinen
Stadtstaaten, von denen es Mytilini und Mithymna (der ursprüngliche Name
von Molyvos) waren, die in der Machtstruktur dominierten. Wenn Sie in
die Geschichte eintauchen, werden sich Ihnen eine schwindelerregende
Zahl von Herrschern offenbaren, darunter der mythische König Makaras,
die Amazonen, Perser, Athener, Ägypter, Piraten, Römer, die italienische
Familie Gateluzzi und die Osmanen. Die Machtwechsel auf Lesvos gingen
nicht wirklich friedlich vonstatten, zumal Mytilini und Mithymna meist
uneinig darüber waren, auf welche Seite sie sich schlagen sollen.
Eigentlich war Mytilini einst ein Inselchen, das durch
eine kleine Seestraße von Lesvos getrennt war. Dieser Wasserweg war von
großer Bedeutung, verband er doch die südlichen und nördlichen Häfen
miteinander. Für Fußgänger überspannten marmorne Brücken das Wasser.
Nach Meinung von Archäologen, war Mytilini früher das „Venedig des
Ostens“. Wie auch immer, der Wasserverlauf versandete mehr und mehr, bis
man schließlich zu der Entscheidung kam, ihn komplett aufzufüllen, um
damit auch die Burganlage besser schützen zu können. Heute findet man am
Verlauf der einstigen Wasserstraße die Einkaufsstraße „Ermou“.
Wie das antike Mithymna zum nötigen Einfluss und Reichtum
kam, um sich mit Mytilini regelmäßig hinsichtlich der Machtverhältnisse
über die Insel anzulegen, ist mir schleierhaft. Es hatte, wie Mytilini
auch, immerhin eigene Münzen sowie diese recht große Festungsanlage und
unterhalb des Städtchens, wie bis zum heutigen Tage, einen Fischerhafen.
Im Jahr 428 vor Christus rebellierte Mytilini als
Mitglied des Attisch-Delischen Seebundes (Allianz griechischer Staaten)
gegen Athen, das, an der Spitze des Bundes, die anderen Staaten
ausbeutete. Logischerweise bat Mytilini die anderen Mitglieder um
Unterstützung, Mithymna jedoch (meist dick mit Athen befreundet)
weigerte sich. So begann Mytilini, ganz heimlich still und leise, für
einen Kampf gegen Athen die Kriegsflotte aufzurüsten und Getreide zu
bevorraten, aber da es auch in jener Zeit schon von Spionen wimmelte,
dauerte es nicht lang, und die Athener bekamen Wind von der Sache. Nun
die Kurzfassung, denn natürlich war es viel komplizierter, wie immer in
der Weltpolitik. Erschüttenderweise kam es nach dem Verrat zu einer
Entscheidung der Volksversammlung (Ekklesia), welche besagte, dass alle
Männer von Mithymna getötet und Frauen und Kinder als Sklaven verkauft
werden sollten. So machte sich alsdann eine Delegation auf nach Lesvos
und begann mit der massenhaften Exekutierung bis zu dem Tag, an dem sie
angesichts dieser blutrünstigen Taten das schlechte Gewissen plagte.
Daraufhin forderten sie ein zweites Zusammenkommen der Volksvertretung
in Athen mit dem Ergebnis, dass ein gewisser Kleon für die Vollstreckung
der Strafe plädierte, ein anderer Volksvertreter namens Diodotos jedoch
vorschlug, die Menschen zu verschonen, um so Verbündete fürs Leben zu
haben. Er überzeugte, die Bürger von Mytilini waren gerettet, und dieses
Ereignis ging als „Debatte von Mytilini“ in die Geschichte ein. Also,
ich kann mir gut vorstellen, dass die Bürger von Mithymna zu dieser
Zeit nicht wirklich zum Einkaufsbummel in Mytilini willkommen waren.
Zurück in die Zukunft: Nehmen wir mal an, man hätte bzgl.
des geplanten Windmühlenparks die Ekklesia einberufen, da wäre es
sicherlich ausschlaggebend gewesen, welche Seite mit dem überzeugenderen
Redner aufgetrumpft hätte. So versprachen Lobbyisten der Firma Iberdrola
den im Westen von Lesvos ansässigen Menschen Arbeit und Geld durch das
Projekt. Meiner Meinung nach hatte die Gegenseite (darunter
Umweltaktivisten) dem nicht wirklich viel entgegenzusetzen, außer der
Warnung vor einer Naturkatastrophe...
Nun, es ist wie es ist, der Inselwesten stimmte den
Bauplänen zu, meines Erachtens jedoch ohne sich bewusst zu sein, wie
drastisch sich der Lebensraum dadurch verändern wird. Man denke nur
allein an den Bau neuer Straßen (100 km, 6 Meter breit), die für die
Installation der Windräder erforderlich sind, tja, und dann diese
nervtötenden Geräusche der sich im Wind drehenden Mühlen, die in Zukunft
die Stille der unberührten Natur ablösen werden.
Die Einberufung einer Volksversammlung, was die
Bootstouren von Pétra aus in die Türkei angeht, wäre auch mehr als
angebracht, oder? Sollen sich doch die Einzelhändler von Mytilini mit
den Reiseagenten zusammensetzen. Mein Vorschlag ist, dass vor der
Diskussion ein jeder die „Debatte von Mytilini“ studieren sollte, damit
die Chance besteht, dass der gesunde Menschenverstand als Sieger
hervorgeht. Es sieht doch so aus, dass Touristen, die sich für den
Norden oder Westen der Insel als Urlaubsstandort entscheiden, jetzt doch
auch nicht wirklich einen Abstecher in die Hauptstadt machen und es sie
einfach nur irritiert, dass sie, um einen Ausflug ins Nachbarland zu
machen, erst einmal eine lange Autofahrt auf sich nehmen müssen. Na, und
Fakt ist doch, dass Mytilini bereits Bootsausflüge nach Izmir und
regelmäßige Flugverbindungen nach Istanbul im Angebot hat.
Tja, auch wenn Lesvos mittlerweile eine einzige Gemeinde
ist, so scheint es, dass der Bürgermeister seine Hauptstadt begünstigt.
Er sollte sich aber mal Gedanken darüber machen, ob es nicht zum
Gemeinwohl beitragen würde, wenn die Besucher der Insel ihre Zeit in den
Dörfern verbringen, als in Bussen oder Autos auf den Straßen.
Und so macht es den Anschein, als sei die uralte
Streitaxt zwischen Molyvos und Mytilini wieder ausgegraben worden.
Abzuwarten ist, ob Athen erneut eingreift.
|