Für griechische Verhältnisse haben wir in der letzten Zeit ein schreckliches
Wetter: Sturm, Regen, Gewitter und dazu auch noch einige Erdbeben (die natürlich
nicht unter den Begriff "Wetter" fallen). In den 5 Jahren, seit wir auf Lesvos
wohnen, haben wir so einen stürmischen Herbst noch nicht mitgemacht. Es ist
derzeit hier wie im Januar und Februar, wenn - genau wie jetzt - das Meer wild
und wütend braust und weiße Gischt sich auftürmt. Mit dem Satz: "Heut´ist kein
Flüchtlingswetter" kommentieren wir diese Tage.
Obwohl ich mich doch frage, ob manch ein Menschenschmuggler nicht doch so
skrupellos ist und auch selbst dann, wenn ihm die salzigen Schaumkronen nur so
um die Ohren fliegen, die Flüchtlinge in ein Schlauchboot setzt, dessen Boden er
vorher mit einigen Einschnitten versehen hat, und ihnen zuruft:
"Flüchtet um Euer Leben Richtung Griechenland!", denn auch nach einer noch so
stürmischen Nacht kann man sie in Molyvos kauern sehen, an der Bushaltestelle
oder nah bei der Olivenpresse. Tja, und dann fragt man sich, was für eine Reise
diese Menschen wohl hinter sich gebracht haben müssen.
Auch der englische Filmregisseur Michael Winterbottom hat sich diese Frage
gestellt. Vor einigen Jahren wurde dieser mit der Schlagzeile konfrontiert, dass
58 Chinesen auf einem Boot in einem Container tot aufgefunden wurden.
Sie haben den Versuch, England über das Meer illegal zu erreichen, mit ihrem
Leben bezahlt. Winterbottom stellte daraufhin weitere Recherchen über
Flüchtlinge in seiner Heimat an und entschloss sich dann, einen Film über den
Fluchtweg von Pakistan nach England zu drehen. Dieses Flüchtlingsdrama "In this
world" wurde 2003 bei den Internationalen Filmfestspielen in Berlin mit dem
"Goldenen Bären" ausgezeichnet.
Für die Hauptrollen castete Winterbottom in Pakistan 2 Jungen aus
Afghanistan: Jamal, auch im wirklichen Leben ein Flüchtling, und Enayat, Sohn
afghanischer Eltern. Mit einer kleinen Crew und einer Digital-Videokamera
zeichnete der Filmemacher den Fluchtweg von Pakistan auf: durch den Irak und die
Türkei, rüber nach Italien, dann nach Frankreich und schlussendlich nach
England. Über ein gut ausgebautes Schmugglernetzwerk reisen sie auf
Ladepritschen von kleinen Pick-Up-Lastern, im Bus, zu Fuß über das unwegbare
schneebedeckte Grenzgebirge, in einem Container auf einem LKW, dann auf einem
Frachtschiff, per Zug und das letzte Stück muss Jamal dann zwischen den Rädern
eines Lastwagens zurücklegen.
Herzzerreißend vermittelt dieser Film, welche Tourtouren Flüchtlinge, wie
die, die z.B. auf Lesvos ankommen, durchgemacht haben müssen. Aber Lesvos ist
immer noch nicht das versprochene Land, sie müssen weiter, zunächst nach Athen
und von dort in den Westen von Europa, wenn sie vorher nicht geschnappt werden.
Wenn man sieht, wie viele von ihnen hier verhaftet werden, weil sie Griechenland
illegal erreichen, fragt man sich schon, wie groß die Zahl derer ist. Die durchs
Polizeinetz schlüpfen konnten.
In dem Film "In this world" führt eine Strecke des Fluchtweges von Istanbul
direkt nach Italien. Doch seit einigen Jahren kann man feststellen, dass der Weg
immer häufiger über das nördliche Festland oder die Inselwelt von Griechenland
führt. Griechenland klagt über die steigende Zahl der Asylbewerber, die aus der
Türkei kommen. Man wirft der Türkei vor, keinerlei Maßnahmen gegen den
Menschenschmuggel zu ergreifen, und auf der anderen Seite beschuldigt die Türkei
die griechische Küstenwache, die Flüchtlinge in die Türkei zurückzuschicken, und
das, nachdem man ihre Boote seeuntüchtig gemacht hat. Internationale
Flüchtlingsorganisationen beschuldigen Griechenland, die Flüchtlinge zu
misshandeln, und der "Spiegel" unterstellt der griechischen Küstenwache sogar
Folter.
Für mich ist fraglich, ob diese Behauptungen der Wahrheit entsprechen. Es ist
doch allgemein bekannt, dass es die Menschenschmuggler sind, die die
Schlauchboote beschädigen, damit die Fliehenden all ihre Kraft aufbringen
müssen, um so schnell als möglich die griechische Küste zu erreichen (nicht
wenige ertrinken bei diesem Versuch). Meine Meinung ist, dass gegen die
türkischen Schmuggler nicht genug gekämpft wird. Wie sonst soll man diese große
Anzahl von Flüchtlingen erklären, die hier auf Lesvos ankommen? (rede ich jetzt
etwa wie ein Grieche?). Nun, jedenfalls sehe ich fast täglich mit eigenen Augen
diese Menschen nach Molyvos marschieren, um dann von Athen aus das Land zu
erreichen, in dem angeblich Milch und Honig fließen soll.
Afghanen, Pakistanis, Iraker, alle nur mit einem Plastikbeutel in der Hand,
versuchen sie, sich auf ihrem Weg über die nun menschenleere Straße von Eftalou
so unauffällig wie nur möglich zu verhalten. Doch wie jetzt, waren sie auch im
Sommer, als es noch von Touristen so wimmelte, die am Meer langspazierten,
leicht auszumachen, mit ihren langen Hosen und den Plastikbeuteln in den Händen.
Fakt ist, dass das Auffanglager auf Samos, dass einige Monate in den
Nachrichten war, aus allen Nähten platzt. Aber wie sollte man ahnen, dass sich
in nur wenigen Monaten die Zahl der Flüchtlinge verdreifachte. Was soll
geschehen, wenn auch hier vor Lesvos ein Boot mit 275 Flüchtlingen ankommt,so
wie es jetzt letztes Wochenende am Peleponnes geschehen ist? (ein türkisches
Boot, auf dem Weg nach Italien, wurde von schlechtem Wetter überrascht).
Auf jeden Fall ist es traurig, dass solch eine Völkerwanderung vor unseren
Augen stattfindet. Man fühlt sich so hilflos, was können wir tun? Wenn Sie den
Film "In this world" gesehen haben, so wird auch Ihnen klar werden, dass es
inzwischen besonders hier in Griechenland ein Geschäft geworden ist, indem es um
Massen von Geld geht, was man mit diesen verzweifelten Menschen betreibt, da die
Anzahl der Flüchtlinge in den Himmel schießt. Und wenn es um den Profit geht,
ist klar, dass die Ware nicht immer gut behandelt wird.
Aber es ist doch auch klar, dass, sollte man all die skrupellosen
Menschenschmuggler inhaftieren würde, dies keinesfalls bedeutet, dass man die
Flüchtlinge aufhalten könnte. Sie würden weiterhin alles daransetzen, um Hilfe
zu finden, ihren Traum zu verwirklichen, auch wenn sie illegal ist.
Weiterhin würden sie alles tun und auch ihr Leben aufs Spiel setzen, um die
westlichen Länder zu erreichen.
In Molyvos ist die Polizeibesetzung nicht ausreichend genug, um ihnen
wirklich bei ihrer Flucht hinderlich zu sein. Sie machen sich zu Fuß auf, nehmen
ein Taxi oder den Bus nach Mytilini, und dort kaufen sie sich ein Ticket für
einen Flug oder eine Schiffspassage nach Athen. Die Fliehenden zeigen aber auch
wie durchlässig die Grenzen Europas sind. Wie ist es sonst zu erklären, dass
mehr und mehr von ihnen in den Fliegern nach Amsterdam sitzen?
Als "In this world" abgedreht war, ging Jamal, einer der beiden
Hauptdarsteller, nach Pakistan zurück. Aber nur für eine kurze Zeit. Kurz danach
trat er die Flucht nach England noch einmal an, um dort um Asyl zu bitten, und
zwar so, wie er es zuvor in dem Film gespielt hat.
Die Welt ist im Aufbruch, und es gibt nichts, was wir tun können, um die
Flüchtlinge aufzuhalten. Großfamilien raffen ihr Geld zusammen, um einem
einzigen Familienmitglied, die Möglichkeit zu geben, ein besseres Leben zu
führen, und sei der Versuch auch noch so lebensgefährlich. Lesvos und andere
griechischen Inseln sind dabei eine Zwischenstation auf einer langen
bedrohlichen Reise ins Ungewisse. Das heißt aber nicht, dass es keine
Immigranten auf der Insel gibt. Hier leben mittlerweile, legal oder illegal,
- so wie in ganz Griechenland - eine große Zahl von Albanern, Rumänen, Russen
und Bulgaren. Sie kommen über eine andere Route ins Land, über die Berge im
Norden, und das ist wiederum eine andere Reise und eine ganz andere
Geschichte...